Dienstag, 3. August 2010

Rückschau: Lesung am 30. September: SUSANNE ALGE - PREMIERE FÜR HAN LI



Roswitha fühlt sich in ihrem beengenden und spießigen Elternhaus, als käme sie von einem anderen Planeten. Schon als Kind ekelt sie sich vor dem Gedanken, einmal im Bauch ihrer Mutter gesteckt zu haben, die für sie den Inbegriff verklemmter Selbstgerechtigkeit darstellt: "man musste sie nicht hassen, um allein aus ihrem Äußeren die richtigen Schlüsse zu ziehen." Bei der Scheidung der Eltern sagt sie trotzdem gegen den Vater und für die Mutter aus.

In diesem Zwiespalt verbringt Rosi ihre Jugend. Zwar bedeutet das Leben mit der Mutter für sie einen ständigen Widerstreit mit den eigenen Bedürfnissen, trotzdem fällt es ihr schwer, sich aus der Verstrickung mit der Mutter zu lösen. In der Familie ihrer Freundin Jette lernt Roswitha zum ersten Mal so etwas wie Lebensfreude kennen. In der Auseinandersetzung mit den Freiheiten, die die Welt der Freundin ausmacht, durchlebt Roswitha eine merkwürdige Verwandlung. Stand am Anfang des Romans ein erfrischend widerspenstiges Kind, das sich gegen die ungerechte Behandlung in der Familie auflehnte und die spießigen Moralvorstellungen der Mutter verteufelte, wird sie nun ihrer Mutter immer ähnlicher.

Premiere für Han Li ist also einerseits ein Roman über die Macht familiärer Muster und über den Hunger nach intellektueller Freiheit, über das Erwachsenwerden in der erstickenden Enge der Sechzigerjahre. Andererseits, und darauf bezieht sich der zunächst rätselhafte Titel, handelt er von dem Bedürfnis, etwas zu verändern, vom Widerstand gegen Ungerechtigkeiten. Den Namen Han Li haben Roswitha und Jette sich für das kleine vietnamesische Mädchen ausgedacht, deren Foto um die Welt ging: Schreiend und brennend rennt sie über die Straße und wird zum Symbol für die Unmenschlichkeit des Krieges. Für die fiktive Han Li schreibt Roswitha ein Theaterstück, mit dem sie sich zugleich ihren Platz in der Welt erschreibt. Vor diesem Platz schreckt sie jedoch immer wieder zurück und stößt andere damit vor den Kopf.


Susanne Alge entwirft ein kritisches Portrait der Bundesrepublik der Sechzigerjahre. Trotz bissigem Humor hinterlässt der Roman vor allem Nachdenklichkeit. Und ein allzu seichtes Happy End gönnt die Autorin ihrer Heldin nicht.

Susanne Alge, geboren 1958 im östterreichischen Lustenau, Studium von Germanistik/Romanistik in Salzburg, Dissertation zur österreichischen Exilliteratur, lebt seit 1990 als freischaffende Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin in Berlin. Hörspiele, Performances und Features zu diversen bekannten sowie vergessenen jüdischen Dichterinnen und ins Exil gejagten Autorinnen und Autoren.

SUSANNE ALGE - PREMIERE FÜR HAN LI
am Donnerstag, 30.09.2010
ab 21.00 Uhr
im ORi
Friedelstraße 8
U-Bahnhof Hermannplatz

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